Minutiöse Missbrauchskontrolle muss sein
(Executive Summary)
Vorgaben für die Prüfung von Unionsrechtsbeschränkungen im Glücksspielbereich durch die mitgliedstaatlichen Gerichte
von Univ.-Prof. Dr. Heiko Sauer *
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse:
- Mangels unionsrechtlicher Harmonisierung im Glücksspielbereich dürfen die Mitgliedstaaten das aus ihrer Sicht erforderliche Schutzniveau selbst festlegen; dabei sind auch Monopol- oder Konzessionssysteme grundsätzlich zulässig. Der insgesamt weite Einschätzungsspielraum wird allerdings durch die Grundfreiheiten begrenzt: Diese dürfen zwar aus Gründen der öffentlichen Gesundheit bzw. aus weiteren zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses begrenzt werden, zu denen die von den Mitgliedstaaten verfolgten Ziele der Glücksspielregulierung auch gehören. Die Beschränkungen der Grundfreiheiten müssen aber geeignet und erfoderlich sein, um die damit verfolgten Gemeinwohlziele zu erreichen.
- Bei dieser Prüfung kommt dem vom EuGH entwickelten Kohärenzgebot maßgebliche Bedeutung zu. Dabei geht es nicht um ein allgemeines Folgerichtigkeitspostulat, sondern um die Frage, ob die von den Mitgliedstaaten angeführten Gemeinwohlbelange auch wirklich hinter der Beschränkung der Grundfreiheiten stehen („Wahrhaftigkeitstest“): Es besteht also zwar weitgehender Freiraum bei der Festlegung dieser Ziele, aber die Mitgliedstaaten müssen sich an den vorgebrachten Zielen dann auch festhalten lassen.
- Ob eine Beschränkung der Grundfreiheiten in diesem Sinne kohärent ist, haben die mitgliedstaatlichen Gerichte im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände zu prüfen. Dabei geht es um eine umfassende rechtliche und vor allem auch tatsächliche Betrachtung nicht nur des einschlägigen Rechtsrahmens, sondern auch seiner praktischen Umsetzung und Kontrolle. Es ist eine dynamische Betrachtung erforderlich, die immer wieder neu vorzunehmen ist. Der Kohärenzprüfung geht es nicht um eine Abwägung im Sinne eines Saldierungsvorgangs, vielmehr sind der Kohärenz absolute Grenzen gesetzt, die in der Rechtsprechung bisher vor allem im Bereich der Werbung für Glücksspielangebote relevant geworden sind.
- Im Grundsatz ist die Kohärenzprüfung bereichsspezifisch, d.h. es ist nicht von vornherein inkohärent, wenn bestimmte Spielformen anders oder weniger streng reguliert sind als andere. Allerdings kann auch ein sektorübergreifender Blick erweisen, dass die für die Regulierung eines Bereichs vorgegebenen Ziele nicht die wirklichen Ziele sind, wenn sich die Regulierung anderer Bereiche zu diesen Zielen in Widerspruch setzt.
- Die Anforderungen des Kohärenzgebots werden flankiert durch das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz als „Schranken-Schranke“ der Grundfreiheiten.
- Die für die Kohärenzprüfung erforderliche Gesamtwürdigung der Umstände ist Aufgabe der nationalen Gerichte, denen der EuGH in Vorabentscheidungsurteilen das zur unionsrechtlichen Beurteilung Erforderliche an die Hand gibt. Mit eigenen Schlüssen zur Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit dem Unionsrecht ist der Gerichtshof selbst sehr zurückhaltend. Für die Kohärenzprüfung macht er strenge Vorgaben: Zu prüfen sind namentlich die Ziele einer Regulierung, die diesen Zielen zu Grunde liegenden tatsächlichen Annahmen, die Existenz einer strikten Kontrolle oder die Rolle staatlicher Einnahmen aus dem Glücksspiel. Die Darlegungs- und Beweislast für die Kohärenz liegt bei den Mitgliedstaaten, die Kontrolldichte ist hoch. Eine die unionsrechtlichen Vorgaben verfehlende Kohärenzprüfung ist ihrerseits unionsrechtswidrig.
- Wegen des Vorrangs des Unionsrechts sind Untergerichte nicht an höchstgerichtliche Entscheidungen gebunden, wenn sie die Kohärenz anders beurteilen. Gegebenenfalls haben sie (erneut) ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV einzuleiten.
- Die Kohärenzprüfungen der österreichischen Höchstgerichte verfehlen die unionsrechtlichen Anforderungen: In den vorgenommenen Gesamtwürdigungen der Umstände spielen tatsächliche Umstände, namentlich die praktische Anwendung glücksspielrechtlicher Regelungen, eine zu wenig prominente Rolle, zudem werden die den Zielen der Glücksspielregulierung zu Grunde liegenden Annahmen nur unzureichend hinterfragt. Die ohnehin immer wieder neu vorzunehmenden Kohärenzprüfungen verfehlen damit insgesamt die unionsrechtlichen Anforderungen an die Kontrolldichte, welche die nationalen Gerichte anzulegen haben. Dies zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Werbung.
* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Der Text geht auf einen Gutachtenauftrag des OVWG zurück. Das Rechtsgutachten wurde am 11. März 2021 fertiggestellt.
Der Aufsatz dazu ist erschienen in: ECOLEX 2021/320.